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Schokolade und Regeln

Regeln und Schokolade

Als Kind hatte ich ein waches Auge für Regelverstösse. Hat jemand meiner Mitschüler, Lehrerinnen oder Eltern gegen eine Regel verstossen, bemerkte ich es immer sofort. Vor allem bei Regelspielen ärgerte ich mich masslos, wenn ein Mitspieler versuchte, für sich einen Vorteil zu erschleichen. An eine Szene erinnere ich mich noch besonders gut: Ich war zehn und zum ersten Mal allein mit mir unbekannten 150 andern Kindern ins Ferienlager ins Wallis gefahren, das von unserer katholischen Kirche organisiert wurde. Natürlich war das Lager bis ins Kleinste durchgetaktet und voller Regeln. Jeden Morgen mussten wir Kinder in die Morgenmesse zur nahen Kapelle über die feuchte Wiese laufen. Meine Stiefel waren danach mehr Schwamm als Schuh. Und so musste ich den Eltern schreiben, dass sie mir rasch in einem Paket besseres Schuhwerk zusenden sollen. Bald kamen die Stiefel an, und ausserdem noch zwei Geschenk-Päcklis in dieser Woche.

Ich überstand das Sommerlager nur mit Mühe und war froh als wir wieder auf dem Heimweg waren. Der Pfarrer höchstpersönlich ging auf der Rückreise durch den Zug und fragte kurz jedes Kind einzeln, wieviel Päcklis sie bekommen hätten. Denn höchstens zwei waren erlaubt! Das wurde im Vorfeld allen Eltern schriftlich mitgeteilt. Und diese Kinder wurden – weil ihre Eltern die Anweisung befolgten – mit einer ganzen Schokolade belohnt. Ich gehörte nicht dazu, weil meine das nicht gelesen hatten und ich korrekt auf die Frage meines Pfarrers antwortete. Er fragte nicht nach dem Inhalt des 3. Päcklis, sondern nur nach der Anzahl. Ich war enttäuscht und auch wütig, vor allem auch deshalb, weil mich sich Pfarrer sofort mit strafenden Augen von mir abwandte und weiterging. Ich fühlte mich nicht völlig unverstanden.

Es war einer meiner ersten prägenden Erinnerungen zum Thema Gerechtigkeit und Regeln. Die Lagerleitung meinte es sicher gut, wie es auch Firmen und Regierungen mit ihren Angestellten und Bürgern gut meinen. Sie entwickeln Formulare, Instrumente und Regeln und wollen unter anderem so mehr Gerechtigkeit schaffen. Doch in der Realität ist es leider oft unmöglich, auf jeden Einzelnen einzugehen, vor allem mit einem vorgefertigten Regelwerk. Regelbewusste Menschen kommen wohl meist einfacher und besser durchs Leben, aber auf der andern Seite wohl auch die, es mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen. Hätte ich doch gesagt, dass ich nur zwei Päcklis bekommen hätte und alle wären zufrieden gewesen.

Meistens können Formulare und Anweisungen nur ungenügend die komplexe Welt erfassen. Wenn wir immer alle Regeln konsequent befolgen würden, wären wir völlig blockiert, weil es einfach zu viele Widersprüche im täglichen Leben gibt. Das zu ertragen nennt man Ambiguität. Eine Fähigkeit, die die heutige Gesellschaft von uns verlangt. Deshalb ist es umso wichtiger, dass man für sich eine klare Werthaltung entwickelt, um nicht ständig unter Gewissensbissen leidet. Anweisungen, Abmachungen und Termine können einfach nicht immer eingehalten werden, auch wenn wir das gerne möchten. Hier sind uns die Latinos klar voraus.