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Gottlieb Duttweiler (Dutti) – ein ADHS-ler?

Gottlieb Duttweiler – ein ADHS-ler?

Erinnert ihr euch noch an die Migros-Verkaufswagen, die bis Ende der 1990er-Jahre in unsere Quartiere kamen, meist am Morgenfrüh, und das im ganzen Land? Ein kurzes Hupen und schon kamen die Mütter, oft mit ihren Kindern, emsig wie die Bienen zum Auto geeilt. Man kannte sich noch persönlich und kam miteinander ins Gespräch Es gab noch keine grossen Supermärkte wie heute. Die Lebensmittel, die die Migros im Wagen zu uns brachte, reichten voll und ganz für unseren täglichen Bedürfnisse. Ich erinnere mich noch lebhaft an den feinen und würzigen Geruch im engen Gang des Verkaufbuses.

Ein gutes Sensorium für die „Schwachen“

Dutti traf damit genau die Bedürfnisse der damaligen Gesellschaft, vor allem hatte er ein gut entwickeltes Sensorium für die weniger begüterten Gesellschaftsschichten. Der obere Mittelstand mied nämlich die Migros konsequent: Sie wollten lieber die teureren Markenprodukte kaufen und gingen deshalb zum Coop. Ich war ein Migroskind und musste mit Einmalzin anstatt Ovomaline Vorlieb nehmen. Ich gehörte also zu den ärmeren Kindern.

Unbequemer Schüler mit Bestnoten

Gottlieb Duttweiler war ein sehr lebendiges und unbequemes Kind, das im Industriequartier in Zürich aufwuchs. Er wurde von seinen Mitschülern gemoppt, weil er anders war und ständig Grenzen sprengte. Der intelligente Gottlieb schaffte den Eintritt in die Kantonale Handelsmittelschule. Doch schon bald musste er sie wieder verlassen, weil ihn die Lehrkräfte als Störenfried erlebten. Er wurde als «unaufmerksam», «unruhig» und «ungebührlich» bezeichnet. Danach konnte er zum Glück in eine kaufmännische Lehre übertreten, was ihm viel mehr entsprach. Gottlieb schloss die Lehre 1907 schliesslich als zweitbester Schüler ab. Heute wäre der Schüler Gottlieb mit Sicherheit in die schulpsychologische Abklärung gekommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er heute ein ADHS diagnostiziert bekäme, ist sehr hoch. Auch sein weiterer Lebenslauf zeugt von einem ADHS. Er gründete nicht nur mehrere Unternehmen, sondern auch noch eine eigene Partei (Landesring der Unabhängigen).

Der Steinwurf

Ein Höhepunkt seiner vielen Rebellionen war 1948. Als gewählter Nationalrat platzte ihm der Kragen, weil seine Motion, die er mühsam zustande brachte, nicht zeitlich zur Abstimmung kam. Er liess er sich von einem Weibel zwei Pflastersteine bringen, die er mit voller Wucht aus einem der Bundeshausfenster warf (1948). Er wollte Aufmerksamkeit.

Gottlieb Duttweiler war ein Querkopf und ein grosser Innovator, der den grössten schweizerische Konzern schuf. Und er wollte vor allem für die Schwachen kämpfen. Die Migrosklubschule zielt genau darauf hin; sie ist zu einer Art Volkshochschule geworden, die nicht vom Staat getragen wird, sondern durch das Migros-Kulturprozent unterstützt wird. Ein Erbe von Dutti, einem nicht diagnostizierten ADHS-ler.