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Frühling, Gärten und Normen

Frühling, Gärten und Normen

Bald ist Ostern und damit wissen wir: es beginnt der Frühling. Und jedes Jahr staune ich immer wieder wie aus den dürren Ästen an unserer Eiche direkt vor unserem Fenster, kleine grüne Knospen hervorspriessen. Man würde es nicht erahnen, wenn wir die Erfahrung nicht hätten, dass es jedes Jahr so kommt. Die Natur erwacht und wir freuen uns über die baldige Farbenpracht in der Landschaft, die uns eine Weile begleiten wird.

Was können wir von der Natur lernen. Ich denke sehr viel. In jedem von uns steckt diese Riesenkraft, die nicht immer sichtbar wird. Es muss einfach der richtige Moment abgewartet werden und dann explodiert sie mit aller Kraft und zu aller Freude. Doch stimmt das wirklich, dass sich alle freuen? Nicht immer, denn der Nachbar ärgert sich bestimmt, wenn unsere Eiche zu hoch in die Höhe schiesst. Sie wirft Schatten auf sein Grundstück, den er nicht möchte. Gar nicht daran zu denken an die gefallenen Eicheln im Herbst, die zu ihm aufs Grundstück rollen.

Ein «schön» gestalteter Garten ist also keineswegs wild. Er wird gebändigt und muss jeden Tag gepflegt und von «Unkraut» befreit werden. Die Sträucher müssen unter der Schere gehalten werden, damit sie die Maximalhöhe von 2m zum Nachbargrundstück nicht überschreiten. Bäume werden zu Spalierbäumen getrimmt und «Neophyten» mit Wurzel ausgerissen. Jeder gute Gemüsegärtner ist auch ein Mörder. Er muss seine Pflänzchen vor den Fressfeinden schützen.

Was bedeutet das nun für uns Menschen? Besteht hier eine Parallele? Ich glaube schon, denn auch wir werden von Kindsbeinen an von unseren «Gärtnern» getrimmt, gestutzt, geordnet oder gar separiert. Die «Obergärtner» haben das Sagen. Diese bestimmen, was für die Gesellschaft gut und harmonisch ist. Die öffentlichen Schulen nehmen hier einen wichtigen Part ein. Spezielle und «exotische» Schüler:innen haben einen schwereren Stand. Doch diese alle umzuformen, gelingt nicht wirklich. Sie bleiben ihrer Natur treu.

Mir sind wilde Parkanlagen sympathischer Rosengärten. Unser kleiner Garten, sofern man ihn überhaupt als das bezeichnen darf, entspricht nicht den gängigen Normen. Er ist sehr wild, alles wächst irgendwo und ungewollt. Wir haben aufgehört uns an Nachbarsgarten zu orientieren. Die meisten von ihnen werden regelmässig automatisch rasiert und sehen ziemlich öde aus. Nur ein Nachbargarten im Quartier sticht heraus. Er ist so schön, dass die Spaziergänger dort immer längere Zeit verweilen, weil er bis ins kleinste Detail mit Liebe komponiert ist. Unser «Garten», der am gleichen Weg liegt, bekommt einen Bruchteil seiner Beachtung. Als wir kürzlich eine Frau aus dem Nachbarort kennenlernten, berichtete sie von ihren regelmässigen Spaziergängen an unserm Haus vorbei. Dort – so schwärmt sie – hätte es doch einen großartigen Garten. Dann wussten wir sofort, wir sind damit nicht gemeint.

Ein bisschen mehr Ordnung wünsche ich mir schon. Doch es braucht intensive Zuwendung, Einfühlsamkeit und vor allem viel Zeit. Ich wünsche uns alle weniger Normen, dafür mehr Liebe für das Spezielle.